Die Zonificación

Lange habe ich mich nicht mehr mit einem Blogartikel gemeldet, das ist in den letzten Monaten ziemlich untergegangen. Und das, obwohl hier immer viel Erzählenswertes passiert. Deshalb möchte ich gerne von einem unserer Abenteuer im Regenwald erzählen.

Wir arbeiten in meinem Programm gerade an der sogenannten Zonificación. Dabei geht es darum, dass Territorium einer Comunidad (indigene Dorfgemeinschaft) genaustens zu analysieren, Flüsse, Bäche, Quellen, Häuser, kulturell bedeutsame Orte etc. mit Hilfe eines GPS zu lokalisieren und auf dieser Grundlage eine Art Raumnutzungsplan zu erstellen. Das ermöglicht eine nachhaltige Nutzung der vorhandenen natürlichen Ressourcen, vermeidet die Zerstörung der Artenvielfalt und hilft, den Wald für die kommenden Generationen zu erhalten. Wir als Team, zusammen mit einer Geografin, wandern also gemeinsam mit den Yanesha mehrere Tage durch den Regenwald, um eben diese Punkte zu Orten.

Am Dienstagmorgen, noch vor Sonnenaufgang, machen wir uns also auf den Weg in die indigene Yanesha-Dorfgemeinschaft Machca Bocaz. Wir, das sind Henry, Cely, Julio, Tamara, Anthropologin Guadalupe, Geografin Liliana und ich. Mit dem Pick-Up fahren wir zwei Stunden die Serpentinen-Straße bis ans Ende der Schotterpiste, von dort geht es zu Fuß eine halbe Stunde steil bergab ins Tal von Machca Bocaz. Es hatte in der Nacht zuvor geregnet, sodass die Steine rutschig sind und die Luft besonders schwül. Bereits schweißgebadet kommen wir mit unseren Rucksäcken, inklusive einiger Grundnahrungsmittel für die nächsten drei Tage, im Versammlungshaus der Comunidad an. Einige Comuneros (Dorfbewohner:innen), die uns beim Prozess der Zonificación unterstützen werden, erwarten uns bereits und wir nutzen den Morgen zur genaueren strategischen Planung und die Geografin gibt eine Einweisung in die Nutzung der GPS-Geräte. Bis zum Mittagessen steht der Plan: Um möglichst effizient arbeiten zu können, teilen wir uns in zwei Gruppen auf, die unterschiedliche Gebiete ablaufen.

Meine Gruppe wird den Fluss weiter abwärts bis zum untersten Ende der Comunidad laufen. Das Ziel des Tages: Das Haus von Comunero Lincol mitten im Wald. Da wollen wir schlafen, um am nächsten Tag von dort aus die Gegend zu erkunden. Nach dem Mittagessen gehen wir gut gestärkt los, am Fluss entlang, über Felsen und durch die Tiefen des Primärwaldes. Bevor wir den Wald betreten, bitten wir ihn um Erlaubnis, wie es bei den Yanesha Tradition ist. Deshalb streicht Cely, selbst eine Yanesha, mir etwas Erde über die Stirn und spricht dabei einige Worte in Yeñoño, die ich nicht verstehe. ‚Jetzt weiß der Geist des Waldes, dass wir kommen und ihm nichts Böses wollen‘, erklärt sie. Entlang der Route zeigt uns Linder, der Dorfchef, verschiedene signifikante Punkte wie Höhlen, Wasserquellen, kleine Wasserfälle, Naturschwimmbecken im Fluss und vieles mehr. All diese Orte werden im GPS eingetragen, damit unsere Geografin Liliana später alle Punkte auswerten und in Karten eintragen kann. Da einige Mitglieder der Unternehmung nicht so trittsicher unterwegs sind, brauchen wir länger als gedacht, die Sonne geht bereits unter und im Wald ist es dunkel, als wir nach rund vier Stunden Wanderung ankommen. Die kleine Hütte ist auf vier robusten Holzpfählen gebaut und eine Leiter führt hinauf zu unserem Schlafplatz. Unten befindet sich ein Tisch aus Bambus, ein Regal, zwei Bänke und eine Feuerstelle mit Brennholz. Viele Bewohner:innen der Dörfer haben zwei Wohnsitze- ein Haus im ‚Dorfzentrum‘ und eines bei ihren Feldern, die meist tiefer im Wald liegen und so nur fußläufig erreichbar sind.

Der Wald wird um Erlaubnis gebeten, ihn betreten zu dürfen.
Flusslandschaft im Tal von Machca Bocaz.
Fenja Blog 4 Bild 3
Orientierung mit Hilfe einer Karte des Territoriums von Machca B..

Das Leben der Yanesha im Regenwald

Gerade angekommen, machen Henry und ich uns auch schon sofort auf zum nahgelegenen Fluss. Immer, wenn wir nach der Arbeit noch etwas Zeit haben, nutzen wir diese zum baden und Carachamas fischen. Carachamas sind Panzerwelse, die sich tagsüber unter den Steinen im Fluss verstecken. Mit der Hand greift man unter die Steine und versucht sie herauszuziehen. Das ist leichter gesagt als getan, denn sie saugen sich an den Steinen fest und an ihren Stacheln rechts und links am Mund und ihren rauen Schuppen schürft man sich schnell die Hände auf. Die paar Carachamas, die wir erwischen, lassen wir jedoch wieder frei, da sie noch sehr jung sind und noch einige Monate wachsen müssen. Also kein Panzerwels zum Abendessen…

Wir kehren zum Rest der Gruppe zurück und Cely ist bereits dabei, Wasser über dem Feuer zu kochen. Bei einer heißen Suppe und Kaffee sitzen wir am Feuer und Guadalupe, die Anthropologin, interviewt einen der Comuneros, um mehr über die Lebensweise der Yanesha zu erfahren. Sie ist mit dabei, um Informationen für das Projekt ‚Formas de Vida‘ des Kulturerhaltungsprogramms von Atiycuy zu sammeln. Zu der Kultur und der Geschichte der Yanesha gibt es kaum wissenschaftlich fundierte Quellen. Deshalb, und damit das wertvolle Wissen nicht verloren geht, arbeitet Atiycuy an eben diesem investigativen Projekt. Und wenn die Comuneros so von ihrem Leben, den Geschichten und Mythen ihrer Kultur erzählen, wirft das ganz neue Perspektiven auf und man lernt die Natur mit allem, was sie zu bieten hat, viel mehr zu schätzen.

Nach einer Weile bereiten Victor und Leonardo, zwei Brüder, und Henry ihre Angelschnur mit Haken und Köder vor. Sie wollen zum Fluss angeln gehen, da in der Dunkelheit, wenn die Fische aus ihren Verstecken kommen, die Erfolgsquote am höchsten ist. Ich begleite die drei und wir setzen uns ans Steinufer, lauschen dem Rauschen des Flusses und ich bewundere den klaren Sternenhimmel. Auch wenn es tagsüber ziemlich warm wird in Machca Bocaz, sinken die Temperaturen in der Nacht und mir wird kalt, sodass ich bereits ins Bett gehe, während die anderen weiter darauf warten, dass Fische anbeißen. Und es lohnt sich: Bei Tagesanbruch stehe ich auf und ein großer Topf mit rund fünfzehn Fischen verschiedener Arten hängt bereits über dem Feuer für unser Frühstück.

Die wirklich große Beute kommt jedoch erst noch, als Victor mit einem toten Zamaño (einem Nagetier) aus dem Wald kommt. Victor ist ein gekonnter Jäger und hatte sich in der Nacht noch mit seinem Gewehr auf die Jagd gemacht- mit Erfolg. Gemeinsam mit Cely bereite ich das Zamaño für das Mittagessen zu. Noch nie habe ich einem Tier das Fell abgezogen, es ausgenommen und in Stücke geschnitten- jetzt weiß ich wie es geht.                                                                                                                  In Peru ist es verboten, Zamaños zu vermarkten. Nur für den Eigenkonsum, wie es in der Comunidad der Fall ist, dürfen sie gejagt und gegessen werden. Man bekommt also nicht so einfach die Möglichkeit eines zu verkosten. Und es wäre gelogen, wenn ich sagen würde es hat mir nicht geschmeckt.

Das Haus von Comunero Lincol, unser Schlafplatz.
Zubereitung des Zamaños.
Fenja mit Zamaños.

Eine lehrreiche Wanderung

Wir teilen uns nochmals in zwei Gruppen auf. Die einen bleiben noch eine Nacht in der Hütte und die anderen, inklusive mir, gehen flussaufwärts wieder in Richtung Dorfzentrum. Mit einem halben Zamaño im Schlepptau (zur großen Freude der restlichen Dorfbewohner:innen) kommen wir am späten Nachmittag wieder im Versammlungshaus an und verbringen den Abend entspannt mit kochen, baden und quatschen, bis wir alle ziemlich müde ins Bett gehen. Für mich sind die Nächte in der Comunidad immer besonders entspannend, weit weg vom Lärm der Stadt und ohne Verkehrsgeräusche. Das soll nicht heißen, dass im Regenwald in der Nacht absolute Stille herrscht, ganz im Gegenteil. Durch das Rauschen der Bäume und des Flusses, zusammen mit den Tiergeräuschen, ist es auch dort ziemlich laut. Mich persönlich entspannt diese Geräuschkulisse der Natur jedoch total.

Am Donnerstagmorgen werde ich von Beto, einem Comunero, geweckt. ‚Gringa, ven! El Masato ya está.‘ (‚Komm Gringa, der Masato ist schon fertig!‘), ruft er die Leiter hoch. Das muss er mir nicht zweimal sagen, in den meisten Comundidades bin ich bereits dafür bekannt, dass ich Masato (das traditionelle Getränk der Yanesha) sehr gerne trinke. Ich steige die Leiter hinunter und Beto reicht mir eine große Tasse Masato. Danach ist man gleich viel wacher und energiegeladen. Wir kochen Frühstück, und noch bevor wir anfangen zu essen, kommt die zweite Gruppe aus dem Wald zurück, sodass wir gemeinsam essen und alle Resultate, Ergebnisse und Erlebnisse der letzten 48 Stunden austauschen.

Und auch wenn bereits zwei anstrengende Tage hinter uns liegen, möchten Guadalupe und ich gerne in Begleitung von zwei Yanesha noch bis hoch zum Aussichtspunkt der Comunidad laufen. Also heißt es Coca Blätter kauen, einen Schluck puren Caña (Alkohol aus Zuckerrohr) trinken und dann eineinhalb Stunden den steilen Berg hinauf – in Yanesha-Geschwindigkeit. Für die Comuneros aus Machca Bocaz ist das viele Laufen kein Problem, sie machen das tagtäglich, sind ausdauernd und haben ein unglaubliches Tempo drauf. Da können wir kaum mithalten. Doch es lohnt sich: Oben angekommen wartet auf uns ein weitläufiges Panorama der Berge Amazoniens. Sebastián holt eine große Flasche Masato aus seinem Rucksack, wir stoßen an und genießen die Aussicht.

Der Weg bergab geht deutlich schneller, aber wir nehmen uns Zeit und machen immer wieder kurz Pause. Sebastián ist einer der Dorfältesten aus Machca Bocaz und erzählt uns von den Geschichten und Legenden aus ihrem Wald, von verschiedenen Geistern bis hin zu Kobolden. Auch mit Medizinpflanzen kennt er sich aus, sodass er einem zu jeder Pflanze etwas zu ihrer Wirkung und ihrem Nutzen erklären kann. Für die Yanesha ist der Wald ihre Apotheke. Heutzutage wird zwar auch ab und zu herkömmliche Medizin genutzt und Arztbesuche in der Stadt werden nicht mehr so sehr verteufelt, trotzdem bleibt eine gewisse Skepsis gegenüber der Schulmedizin und die Pflanzen aus dem Wald bleiben die erste Anlaufstelle, wenn es um die Heilung von Krankheiten geht. Aber auch dieses Wissen geht nach und nach verloren, wenn es nicht an die nächsten Generationen weitergegeben wird.

Nach einem verspäteten Mittagessen verabschieden wir uns von den Comuneros und steigen den Anstieg bis zur Schotterpiste hinauf, wo uns der Pick-Up bereits erwartet. Bis wir wieder in Villa Rica ankommen redet kaum jemand ein Wort, so erschlagen und müde sind wir. Aber wir werden wiederkommen, denn in drei Tagen kann man längst nicht alle notwendigen Informationen aus dem weitläufigen Territorium von Machca Bocaz bekommen. Einige Gebiete sind zu Fuß nicht einmal erreichbar, sodass eine Drohne zum Einsatz kommen wir. Diesen Prozess der Zonificación werden wir in allen fünf Dorfgemeinschaften, mit denen Atiycuy zusammenarbeitet, durchführen. Und ich bin gespannt, welche Erlebnisse uns dabei noch erwarten werden.

Aussicht auf Machca Bocaz von oben.
Fenja.
Panzerwels und Kochbanane zum Frühstück.
Dorfchef Linder markiert bedeutsame Orte mit dem GPS.
Feuerstelle.
Badestelle am Fluss.

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